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Einleitung zur Blogserie: Evidenzbasierte Praxis in der Ergotherapie – Was bedeutet das für mich?

Wir alle haben in unserer Ausbildung gelernt, dass wissenschaftliche Evidenz ein essenzieller Bestandteil unserer therapeutischen Arbeit ist. Der Begriff "evidenzbasiert" ist heute allgegenwärtig – in Fachartikeln, Fortbildungen und politischen Diskussionen über das Gesundheitssystem. Aber was bedeutet das konkret für unseren ergotherapeutischen Alltag? Welche Arten von wissenschaftlicher Evidenz gibt es, und wie können wir sie in unsere Arbeit integrieren?

 

Die Herausforderung für viele Ergotherapeut:innen liegt nicht darin, den Wert von Forschung anzuerkennen, sondern darin, sich in der Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse zurechtzufinden und diese praktisch anzuwenden. Nicht jede Studie liefert eine allgemeingültige Antwort, und nicht jede wissenschaftliche Methode ist gleichermaßen geeignet, um therapeutische Fragestellungen zu beantworten.

 

Diese Blogserie soll Orientierung bieten und Wege aufzeigen, wie wissenschaftliche Evidenz in der Ergotherapie sinnvoll genutzt werden kann. Dazu werfen wir zunächst einen Blick auf die Evidenzpyramide, die verschiedene Arten wissenschaftlicher Erkenntnisse in ihrer Aussagekraft ordnet. Anschließend widmen wir uns den objektivsten Studienmethoden wie randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) und systematischen Reviews. Danach betrachten wir den oft unterschätzten Wert von Fallstudien und ihre Bedeutung für die ergotherapeutische Praxis. Abschließend zeigen wir auf, wie jede:r Ergotherapeut:in durch systematische Dokumentation und evidenzbasierte Entscheidungsfindung zur Weiterentwicklung der Profession beitragen kann.

Diese Serie ist für alle gedacht, die nicht nur "evidenzbasiert" arbeiten wollen, weil es gefordert wird, sondern weil sie ihre Arbeit reflektiert und wissenschaftlich fundiert gestalten möchten. Viel Freude beim Lesen und Diskutieren!

 


Warum sich mit Evidenz beschäftigen? Der Wert von Studien für die Praxis

 

Starte mit dem Warum!

Der bekannte Autor, TedX Präsentator, Podcaster und Kommunikationsexperte Simon Sinek sagt:

„Die meisten Menschen wissen, was sie tun, einige wissen wie sie es tun, aber nur wenige wissen warum sie es tun.“

Also: Warum machst du Ergotherapie? Warum bist du in diesen Beruf gegangen? Die meisten von uns werden darauf antworten: Weil wir anderen helfen wollen! Weil wir Veränderung bewirken wollen! Weil wir etwas tun wollen, das einen echten Unterschied im Leben unserer Patient:innen macht!

Aber wenn wir wirklich etwas bewirken wollen – warum sollten wir uns dann mit weniger als der besten verfügbaren Therapie zufriedengeben? Wenn es Methoden gibt, die nachweislich effektiver sind, warum sollten wir uns auf das verlassen, was wir schon immer getan haben?

 

Erfahrung ist wichtig – aber nicht genug

Natürlich spielt Erfahrung eine große Rolle in unserer Arbeit. Aber unsere Intuition kann uns auch täuschen. Wenn wir uns nur auf unsere subjektiven Erfahrungen verlassen, riskieren wir, dass wir verzerrte Wahrnehmungen entwickeln. Wir sehen Erfolge, aber vergessen vielleicht die Fälle, in denen unsere Methoden nicht gewirkt haben. Wir gewöhnen uns an bestimmte Symptome und verlieren das Gefühl dafür, was als „normale“ Entwicklung gilt.

Stell dir vor, du arbeitest seit Jahren mit Kindern mit Entwicklungsstörungen. Tag für Tag begegnest du ähnlichen Herausforderungen – bis du schließlich eine Art „internen Maßstab“ entwickelst. Doch was ist, wenn dieser Maßstab nicht mehr objektiv ist? Was, wenn du Kinder als unauffällig einstufst, die eigentlich eine Intervention bräuchten – oder umgekehrt?

Hier kommen wissenschaftliche Studien ins Spiel. Sie helfen uns, unsere Praxis zu reflektieren, blinde Flecken zu erkennen und unsere Arbeit auf eine fundierte Basis zu stellen.

 

Die Gefahr veralteter Annahmen

Hand auf's Herz: wann hast du deine Neuro-Ausbildung aus der Ergo-Schule und deinem ersten SI-Kurs zuletzt aufgefrischt? hast du Neuro-Kurse besucht? Oder selbst Forschungsartikel dazu gelesen? Wenn du so bist wie die meisten von uns, dann liegt das viele Jahre zurück oder war vielleicht ein kleiner Einblick in ein Spezialthema. Abre regelmäßig seine neurologischen Grundlagen updaten? Das macht fast keine:r, solange man nicht selbst unterrichtet und nicht riskieren möchte, durch Fragen der Studierenden als "nicht auf dem aktuellen Stand" geoutet zu werden. 

 

Und so verlassen uns auf Annahmen, die wir irgendwann gelernt haben, aber die möglicherweise längst überholt sind! Hier ein paar Beispiele, zu welchen drastischen Änderungen in medizinisch-therapeutischen Annahmen die empirische Forschung geführt hat: 

  • Früher dachte man, das Gehirn könne sich nach einer Hirnverletzung nicht mehr regenerieren. Heute wissen wir: Neuroplastizität ermöglicht lebenslange Anpassung.
  • Lange Zeit wurde Kindern mit motorischen Schwierigkeiten geraten, einfach mehr zu üben. Heute zeigen Studien, dass variationsreiche sensomotorische Erfahrungen in sinnvollem Kontext (ein Grundprinzip der Ergotherapie!) oft effektiver sind als bloße Repetition ohne Motivation und Bedeutung für da Kind.
  • Früher hatte ich zu dynamischem Sitzen nur für Zuhören und konzentrieren geraten. Bis ich eine Studie las, die zeigte, dass die Schriftqualität vieler Kinder mit ADHS vom Sitzball signifikant profitierte. Daraufhin stellte ich meine Empfehlung um.
  • Manche Methoden basieren auf Theorien, die nicht mehr mit den aktuellen Erkenntnissen der Neurowissenschaften übereinstimmen und können ihre Wirksamkeit nicht objektiv belegen. Wendest du vielleicht den recht populären Ansatz der Reflexintegration an? Viele Ergotherapeut:nnen haben ihn zu ihrer Werkzeugkiste. Aber hast du dich je gefragt: Sind die Grundlagen meiner Methode überhaupt noch gültig? Hast du dir die Referenzen zu den Neurowissenschaften angesehen, die du in den Büchern und Unterlagen dazu findest? Und hast du in deinen Kursen nach Wirksamkeitsstudien gefragt? Tu es jetzt und teile gern die Referenzen in den Kommentaren mit uns!

Wissen ist Macht – nutze sie!

Diese Blogserie kann dein Weckruf sein! Stell dir vor, du hast die Möglichkeit, dein therapeutisches Handeln auf die nächste Stufe zu heben. Nicht weil jemand es von dir verlangt, sondern weil du das Beste für deine Klient:innen willst.

Wissenschaftliche Evidenz ist kein Selbstzweck. Sie ist das Werkzeug, das dir hilft, deine Arbeit nicht nur gut, sondern großartig zu machen! Sie gibt dir die Sicherheit, dass das, was du tust, wirklich wirkt. Sie schützt dich davor, in alten Denkmustern stecken zu bleiben. Sie eröffnet dir neue Perspektiven und neue Möglichkeiten.

Also: Willst du einfach nur tun, was du schon immer getan hast? Oder willst du die beste Therapie bieten, die du bieten kannst? Die Wahl liegt bei dir!

 

 

 

Evidenzbasierte Praxis bedeutet nicht, die klinische Erfahrung von langjährigen Praktiker:innen zu negieren oder ignorieren,  sondern sie durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu ergänzen. Eine fundierte Therapie basiert auf der Kombination aus klinischer Expertise, Patientenpräferenzen und der besten verfügbaren Evidenz. In den nächsten Beiträgen dieser Serie möchte ich mich den verschiedenen Studienmethoden widmen, und wie sie uns helfen können, bessere Entscheidungen für unsere Patient:innen zu treffen. Den Abschluss der Serie macht die interessante Frage, wie jede:r einzelne von uns zur Evidenz von Ayres' Sensorischer Integration beitragen kann. Lass dich inspirieren und zum Handeln anregen! 

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