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Das wusstest du noch nicht über den Gleichgewichtssinn!

Als mein Bruder und ich im Vorschulalter waren, haben wir uns oft auf dem Parkettboden im Wohnzimmer so lange auf dem Po sitzend gedreht, bis wir so schwindlig waren, dass wir uns hinlegen mussten. Ich erinnere mich gut daran, mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken zu liegen und zu fühlen, wie der Schwindel abebbt. Allerdings habe ich mich nie soviel gedreht, dass mir übel wurde und ich erbrechen musste. Zumindest erinnere ich mich nicht daran!

 

Kinder experimentieren auf vielfältige Weise mit ihrem Gleichgewichtssinn. Sie fordern ihn heraus, strengen sich an, um ihn beim Balancieren oder mit Eislaufschuhen zu meistern, und sie loten seine Grenzen aus, was das Tempo betrifft oder die Höhe, aber auch das Schwindelgefühl. Oft wird angenommen, dass es doch etwas Gutes sei, wenn man nicht schwindlig wird. Doch das ist nicht wirklich so, denn Schwindel ist eine Schutzreaktion. Doch eine andere, als wir vermuten würden. Lass dich überraschen!

 

Eine kurze Erklärung des Gleichgewichtsorgans

Unser Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) liegt im Innenohr und besteht aus zwei Anteilen: einem Anteil für die Schwerkraftempfindung (Otolithenorgan) und einem Anteil für Bewegung im Raum incl. Drehung (Bogengänge). Wenn wir den Kopf bewegen, verbiegen sich Haarzellen, wodurch die Rezeptorzellen aktiviert werden. Die Vestibulariskerne in unserem Hirnstamm und das Kleinhirn bekommen die Information, dass der Kopf die Lage verändert hat und/oder sich im Raum bewegt, beschleunigt oder abbremst.

 

Das ist wichtig, damit Haltungs-, Balance- und Augenreaktionen ausgelöst werden, die es uns ermöglichen, uns aufrecht zu halten, nicht zu fallen, und ein stabiles Bild unserer Umgebung zu haben, auch wenn wir uns bewegen. All das läuft ganz unbewusst und automatisch ab. Außerdem aktivieren Gleichgewichtsreize unser Wachheitssystem und machen uns wach und aktiv oder ruhig und schläfrig.

 

 

Was ist Schwindel?

Schwindel tritt nicht auf, solange wir uns drehen, sondern nachdem wir die Drehung abgestoppt haben. Das liegt daran, dass die Flüssigkeit (Lymphe) in den Bogengängen während der Drehung in Bewegung ist. Während der Drehung bewegt sich die Flüssigkeit  in den Gehörgängen (Lymphe) mit dem Gehörgang mit, sodass die Haarzellen sich nicht bewegen. Erst wenn man anhält, bewegt sich die Flüssigkeit aufgrund ihrer Trägheit weiter, wie Wasser in einem schwappenden Gefäß. Das krümmt die Haarzellen so, dass sie Signale an das Gehirn (Vestibulariskerne im Hirnstamm und Kleinhirn) senden, dass der Kopf in Bewegung ist. Was zum Zeitpunkt des Abstoppens natürlich nicht mehr stimmt. Trotzdem kippt man in die entgegengesetzte Richtung, wie um sich aufzufangen. Erst wenn man sich für ein paar Sekunden hingelegt hat, lässt die Nachwirkung der Drehung nach.

  

Die Schwindelreaktion ist eine evolutionäre Anpassungsleistung, um das Gehirn und den Körper zu schützen. Es ist also ein gutes Zeichen, wenn eine normale Schwindelreaktion vorhanden ist. Dr Ayres hat zur Bestimmung, was eine "normale" Schwindelreaktion bei Kindern ist, den Drehstuhltest von Dr Barany für Kinder adaptiert und Normen erhoben, wie lange der postrotatorische Nystagmus dauert. Erst kürzlich wurden erneut Normen dazu gesammelt und das Ergebnis ist immer weitgehend gleich: die Dauer des postrotatorischen Nystagmus ist sehr konstant und beträgt nach 10 Drehungen a 2 Sek. durchschnittlich 10 sek. mit einer Standardabweichung von 3-4. Die Norm liegt als zwischen 6 und 14 sek.

 

 

Warum wird uns vom Drehen übel?

So weit so gut. Doch wir alle wissen, dass uns von zu viel Drehen nicht nur schwindlig wird, sondern auch übel bis hin zum Erbrechen. Und die evolutionäre Erklärung, warum Schwindel zum Erbrechen führen kann, ist durchaus überraschend!

 

Wenn unsere weit zurückliegenden Vorfahren giftige Nahrung verzehrten, deren Stoffe die die Blut-Hirn-Schranke passierten und das Gehirn schädigten, was sich z. B. in elementaren Gleichgewichtsfunktionen zeigte, löste das autonome Nervensystem eine Schutzreaktion aus, durch die der Mageninhalt ausgeschieden wurde. So wurde die Menge der schädigenden Substanz reduziert, die andernfalls verdaut und zu einer weiteren Vergiftung führen würde. 

 

nächsten Generation bei. Wenn ein bestimmtes Merkmal unter den relevanten Bedingungen weit genug Bedingungen der Umgebung ausgewählt wird, wird es schließlich zu einem relativ allgegenwärtigen Merkmal im Genom einer Population.

 

Diese Situation ist auch dem modernen Menschen nicht unbekannt: nämlich im Zusammenhang mit Alkoholkonsum. Alkohol ist ein Gift, und wenn er in ausreichenden Mengen ins Blut gelangt, beeinflusst er die Gehirnchemie. Die Alkoholvergiftung führt typischerweise zu Gleichgewichtsproblemen (Torkeln), Benommenheit und Koordinationsstörungen wie eine Ataxie, die ja auch vom Kleinhirn ausgeht. Zu viel Alkohol im Gehirn beeinträchtigt die vestibulären Zentren, was wiederum dazu führt, dass das das autonome Nervensystem über den Vagusnerv  heftige Magenaktivität auslöst, was schließlich zum Erbrechen führt. 

 

Unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen Schwindel, der durch eine Vergiftung verursacht wird, und Schwindel, der durch Drehen verursacht wird. Übermäßiges Drehen löst also diesen sehr wichtigen Reflex, der uns vor Vergiftung schützen soll, "grundlos" aus. Letztlich ist Schwindel und durch zu viel Drehung verursachtes Erbrechen eine Schutzreaktion vor Vergiftung. Wer hätte das gedacht!!

 

Ziemlich cool, oder? Wenn wir uns intensiv drehen, aktivieren wir eigentlich einen uralten, ursprünglichen Reflex, der mitgeholfen hat, dass unsere Spezies überlebt hat.  Und bis heute bieten Spielplätze Kindern unzählige Gelegenheiten, ihren Gleichgewichtssinn zu aktivieren, erfahren und erproben, herauszufordern, seine Grenzen auszuloten!

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